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Marillion: Von Anoraks oder der Katze im Sack

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Interview

Marillion sind immer für eine Überraschung gut – auch wenn diese nicht für alle immer positiv ausfällt. Das neue Studioalbum der Band heisst "Anoraknophobia" und genauso ungewöhnlich wie sein Titel ist auch die Entstehungsgeschichte.

Renald Mienert unterhielt sich mit Steve Hogarth

Es war 1987 als ich bei einem Kumpel zum ersten Mal "Script For A Jester’s Tear" hörte. Ich hatte mir das Cover des Albums nicht angeschaut, und meiner erste Reaktion war: "Das ist das Beste, was Genesis seit Jahren gemacht haben". Zu meiner Ehrenrettung darf ich hinzufügen, dass zwei Jahre vor der Wende die Alben von Marillion in Halle/Saale nicht unbedingt in jeder Plattensammlung zu finden waren. Jedenfalls hat mich das Album stark beeindruckt und seit dieser Zeit habe ich die Band nicht aus den Ausgen verloren. Ich gebe zu, ich liebe die Alben mit Fish – egal ob erwähntes "Script For A Jester‘s Tear" (1983)", "Fugazi" (1984), "Misplaced Childhood" (1985) oder "Clutching At Straws" (1987). Und wenn diese Alben bei Umfragen nach den besten Prog-Scheiben aller Zeiten immer noch ganz weit vorne landen, dann ist das für mich voll ok – egal, ob "Westentaschen-Genesis" oder nicht. Doch Fakt ist auch, dass die Band seit "Seasons End" (1989) mit Steve Hogarth einen absolut ebenbürtigen Ersatz gefunden hat. Hatte die ersten vier Alben der Band alle einen einheitlichen Stil, so weiss man aber seit dem Einstieg Steve Hogarths nie, wie das nächste Album klingen wird.

Teilweise geht das schon auf meine Kappe. Als ich zur Band stieß, hatte ich verglichen mir den anderen eine völlig neue Perspektive. Ich war der einzige, der Marillion von außen kannte – die anderen nur von innen. Das erste was ich also versuchte, war diese Typen aus dieser eingefahrenen Rille herauszudrängen. Anfang der Neunziger habe ich das ziemlich heftig versucht, habe immer gesagt, lasst uns mal etwas neues ausprobieren. Es ist fast zu vergleichen mir einem schweren Felsbrocken. Es braucht eine Weile, bis er erst einmal in Bewegung gerät, aber wenn er erstmal rollt, dann läuft er praktisch wie von selbst. Mittlerweile bin ich mir nicht mal mehr sicher, ob ich diese Entwicklung überhaupt aufhalten könnte, selbst wenn ich es wollte. Im Augenblick sind jedenfalls die anderen Bandmitglieder fast experimentierfreudiger als ich. Steve Rothery entdeckt seine Gitarre quasi immer wieder neu. Die Gitarrensounds auf dem neuen Album sind einzig und alleine seine Idee. Auch der Einsatz von Drumloops ist neu für uns. Ich weiss nicht, ob das die Hörer auch so sehen, aber was mich angeht, so denke ich, die Einflüsse von schwarzer Musik sind in den letzten Jahren immer größer geworden. Als ich bei Marillion einstieg, gab es das praktisch überhaupt nicht, abgesehen vielleicht von einigen wirklich minimalen Blues-Einflüssen. Über die Jahre wurde das aber anders. Jetzt gibt es bei Marillion Blues-Einflüsse, Gospel, Funk bis hin zum Hip Hop oder Trip Hop. Wir werden sozusagen immer schwärzer.

Wies schon "Seasons End" deutliche Unterschiede zu den Vorgängern auf, bewegte sich das folgende "Holidays In Eden" (1991) in absolut poppigen Gefilden. Die Proggemeinde war entsetzt, aber schon bei diesem Album war klar: Egal in welchem stilistischen Umfeld sich die Band bewegt, gute Songs, kann sie in jedem schreiben. Und die Kehrtwende folgte prompt: "Brave" (1994) war ein schwer konsumierbares Konzeptalbum, zu dem darüber hinaus ein Film entstand, bei dem Richard Stanley (besonders in Horror – und SF – Kreisen kein Unbekannter) Regie führte. Steve Hogarth hatte sich längst in die Band integriert, von Anfang an hatte er ja auch für die Marillion – Texte gesorgt.

Meine Texte kommen mehr vom Herzen als vom Verstand, oft spiegeln sie zum Beispiel wieder, wenn ich mich verletzt fühle. Meine Texte funktionieren auf verschiedenen Ebenen. Da ist zunächst einmal die ganz normale Bedeutung des Wortes. Dann gibt es das, was zwischen den Zeilen steht, und darüber hinaus noch eine dritte Ebene, die fast schon etwas wie Code darstellt, einen Code den wahrscheinlich nur ich und ganz wenige Leute neben mir entziffern können. Meine Lieblingstexte haben alle diese Multidimensionalität. Ich bediene mich aber nicht aus der Literatur oder stelle Bezüge zur Mythologie her, wie es viele andere Leute machen, Sting zum Beispiel. Das ist aber oft ziemlich künstlich, während meine Texte sehr persönlich sind.

Auch das darauffolgende "Afraid Of Sunlight" (1995) war ein Konzeptalbum, wenn auch deutlich weniger komplex. Die Progszene, die sich gerade wieder mit der Band versöhnt hatte, reagierte maulig (zugegeben, ich auch). Erstaunlicherweise wurde das Album von britischen Kritikern dennoch unter die besten fünfzig Alben des Jahres gewählt. Aber Kritiker und erst recht die Progszene, hatten die Band ohnehin nie gekümmert, selbst zu Fish-Zeiten hatte man keinen Wert darauf gelegt, in diese Schublade gesteckt zu werden. Sowohl "Brave" als auch "Afraid Of Sunlight" wurden von Dave Meegan produziert, eine Zusammenarbeit, die mit dem neuen Album wieder auflebt.

Es war wirklich für jeden von uns eine Freude erneut mit Dave Meegan zu arbeiten. Auf die beiden anderen Alben mit ihm sind wir auch besonders stolz. Das Wissen, erneut ihn als Produzenten zu haben, nahm uns sehr viel Druck ab, denn wir vertrauen ihm total. Er geht sehr methodisch vor und erklärt alles, allerdings – und das ist das einzige Problem, wenn man es denn so nennen will – Dave arbeitet unwahrscheinlich langsam. Manchmal tüftelt er zwei Tage an einem bestimmten Sound, und wenn du es dann hörst, klingt es für dich genau wie vorher. Er ist sehr detailverliebt, bei ihm klingt nichts steril oder rein mechanisch.

Doch da die Verkaufszahlen wohl zu wünschen übrig ließen und die Band von EMI zu jener Zeit auch nicht gerade besonders unterstützt wurde, trennte man sich nach diesem Album. Was der Kreativität der Band jedoch keinen Abbruch leistete. Doch auch das Leben ohne Major hat so seine Tücken.

Unseren letzten drei Alben "Strange Engine", "Radiation" und "Marillion.Com" haben wir bei Castle veröffentlicht, einem Indie. Die Sache hat nicht besonders gut funktioniert, in der heutigen Welt ist man schon rein aus finanzieller Sicht bei einem Major besser aufgehoben. Das Problem mit den Indies ist einfach, du beginnst mit einer Platte, und wenn du fertig bist, ist es plötzlich pleite.

Marillion beugten vor, und setzten auf das Internet. Nun hat heutzutage jede Hinterhofkapelle ihre eigene Domain, auf der sie ihre selbstgebrannten Alben verkauft oder MP3-Files anbietet. Marillion probierten etwas völlig neues, was ihr aktuelles Album betrifft, mit dem Ergebnis, wieder bei EMI zu landen!

Für das neue Album lagen uns zwei Angebote von kleinen Plattenfirmen vor, aber weder das eine noch das andere hat uns zugesagt. Da kamen wir auf die Idee, unsere Fans zu fragen, ob sie nicht einverstanden wären, das Album vorzufinazieren. Ich schickte eine email an über zehntausend Leute und innerhalb von zwei Tagen hatten über sechstausend geantwortet, und der weitaus größte Teil erklärte sich bereit. Wir haben das Album also verkauft, bevor es überhaupt aufgenommen war und haben so über zwölftausend Kopien abgesetzt. Danach sind wir zu EMI und haben gesagt: "Erinnert ihr euch noch an uns? Wir haben da einen Vorschlag zu machen! Ihr könnt unser neues Album umsonst kriegen! Die Rechte bleiben bei uns und die ersten zwölftausend Alben verkaufen wir selbst." Ein solches Vorgehen ist absolut neu, niemand hat das vor uns gemacht – weder ein Indie noch ein Major. EMI war einverstanden, denn sie rechnen natürlich damit, trotzdem noch jede Menge Kopien von dem Abum zu verkaufen. Wir haben EMI gesagt, von unserer Doppel-CD Version des Albums bekommt ihr bis zum Ende des Jahres nur zweitausend Stück, mehr nicht. Wenn die offizielle Version jetzt in den Handel kommt, sind auch die Händler zufrieden, denn es gibt keine zwei konkurrierende Versionen in den Läden. Und was die Musik angeht, so haben uns die Leute von EMI zumindest hier in London gesagt, dass sie ihnen ebenfalls gefällt. Ich glaube, es gibt zwei wichtige Dinge bezüglich des Internets. Zunächst einmal haben wir sehr früh erkannt, welche Möglichkeit das Web wirklich bietet. Wir hatten unsere Website immerhin bereits 1996. Damals war das Internet noch etwas für Freaks, ein Sache für Spinner, die viele andere überhaupt noch nicht ernst nahmen. Jetzt ist es natürlich cool und trendy und auf der Straße spricht jeder davon. Darüber hinaus, haben wir eine sehr enge Beziehung zu den Leuten, die unserer Webseite gestalten. Sie sitzen im gleichen Gebäude, in dem auch unser Studio ist. Es hat also überhaupt nicht den Charakter, als gäbe man einen Auftrag an irgendeine fremde Firma. Heute ist es ja oft sogar schon so, dass die Plattenfirmen die Webseiten der Künstler betreiben. Manche Major erwerben bei einem Deal gleich die Rechte an der Website mit, was absolut furchtbar ist – das ist, als würdest du deine Eier aus der Hand geben! Die Inhalte für unserer Site bestimmen wir alleine, wir sind im ständigen Dialog mit dem Webmaster. Wir interessieren uns auch sehr für jedes Feedback, das die Leute uns per Website geben. Aber ich würde sogar soweit gehen, dass unser Webauftritt schon fast etwas Spirituelles hat. Es ist unglaublich, wie die Fans an uns glauben, das beweist ja schon die Geschichte der aktuellen Platte. Ich meine, wer ist heute schon bereit, für etwas zu zahlen, von dem er noch gar nicht weiss, wie das Endergebnis ausfallen wird. Es ist ja nicht nur, dass sie glauben, dass Album wird gut, sie vertrauen uns ja auch ihr Geld an.

Und die Fans, die sozusagen die Katze im Sack gekauft haben, scheinen auch zufrieden zu sein. Und wie populär Marillion besonders bei der Internet-Gemeinde sind, belegt auch eine andere Tatsache.

"21th Century" wurde immerhin Platz Eins in den MP3.COM – Alternative Charts und Platz Zwei, wenn man alle Genre betrachtet. Bis Ende März gab es immerhin 13.700 Downloads. Wir mussten natürlich einige Überzegungsarbeit bei EMI leisten, bis sie zustimmten, den Song freizugeben, die Majorlabels werden ja immer ziemlich nervös bei diesen Dingen, aber was solls: Bei Napster war ja das ganze Album schon zu haben, was haben wir also zu verlieren? Als wir uns für den Song entschieden, waren wir in der Band der Meinung, es wäre einfach das stärkste Stück des Albums. Was mich angeht, so ist es jedesmal so, dass sich meine Vorlieben ändern. Wenn wir ein Album im Kasten haben, dann liebe ich besonders diesen Song, einen Monat später, kann es ein ganz anderer sein. Im Augenblick gefällt mir der letzte Song von "Anoraknophobia" am besten. Aber auch das kann sich in einem Monat wieder geändert haben.

Das neue Album ist sicher nicht gerade leicht zugänglich und auch der Titel könnte hierzulande für Verwirrung sorgen – warum sollte man sich wohl vor einem harmlosen Kleidungsstück wie einem Anorak fürchten?

Ich glaube, dieses "Nicht aud Anhieb mögrn" ist es ja gerade, was interessante Musik ausmacht. Wenn du einen Song das erste Mal hörst, und er gefällt dir von Anfang an, dann ist das Stück oft – wenn auch nicht immer – ziemlich eindimensional geraten. Natürlich besteht auf der anderen Seite schon die Gefahr besteht, dass Leute, die sich nicht genügend Zeit nehmen, einfach nicht mitkriegen, was wir eigentlich wollen. Und was den Titel angeht, dabei Titel handelt es sich um ein Wortspiel. Natürlich ist ein Anorak zunächst einmal ein Kleidungsstück, aber wenn man in England jemanden einen "Anorak" nennt, dann bedeutet das, dass dieser Typ ziemlich ausgeflippt ist und ziemlich besessen von bestimmten Ideen oder abgefahrenen Hobbys, was andere oft gar nicht nachvollziehen können. Die Leute, die das Album gekauft haben, bevor es überhaupt fertig war, sind auch solche Anoraks. Der Titel besteht praktisch aus drei Worten"Anorak No Phobia", was bedeuten soll, habt keine Angst vor solchen Typen. Ich glaube, es ist gut, ein Anorak zu sein. Wir leben im 21. Jahrhundert, und die meisten Leute glauben an überhaupt nichts mehr. Ich halte es für wichtig, an etwas zu glauben.

Ich zumindest glaube fest daran, dass Marillion noch für viele Überraschungen gut sind.


© 05/2001 Renald Mienert
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