Radiation heißt
das neue Album der fünf Briten und präsentiert die Band in
einem ziemlich ungewohnten Soundgewand, an dem sich sicher die
Geister scheiden werden. Das haben sie allerdings bei Marillion
schon immer getan, erst recht, seit SteveHogarth vor
Jahren Fish als Frontmann ersetzte. Ich unterhielt mich mit dem
Leadsänger, was jedoch nicht immer ganz einfach war.
Marillion mit Fish, das steht
für vier Studioalben, die in der Prog-Szene heute immer noch
als das Non-Plus-Ultra gelten. Marillion mit Hogarth, das steht bei
vielen vor allem für gemischte Gefühle. Eigentlich normal,
daß ich wissen möchte, wie es denn damals eigentlich war,
als er die Position hinterm Mikro bei Marillion einnahm. Aber man
kann mit Steve Hogarth über alles reden, nur über eines
nicht.
Ich werde auf diese Frage nicht
antworten. Es ist jetzt zehn Jahre her und ich wurde so oft danach
gefragt. Denk dir etwas besseres aus, wonach du mich fragen kannst.
Dumm gelaufen, und zugegeben, einen
winzigen Augenblick denke ich: Dann mach doch deine Interviews
alleine! Aber, man ist ja Kummer gewohnt. Und schließlich
hat die Plattenfirma eine Promo spendiert, dafür kann man sich
doch schon mal vollpflaumen lassen. Jedenfalls habe ich mehr Glück,
als ich das Gespräch darauf bringe, daß Marillion sich ja
seit längerem augenscheinlich in einer sehr kreativen Phase
befinden. Steve weiß auch, woran das liegt.
Die Chemie in der Band stimmt und
wir sind sehr froh mit dem, was mir machen. Und es gibt tatsächlich
ein starkes Zusammengehörigkeitsgefühl in der Band. Ich
habe zwar nicht in so vielen Bands gespielt, aber ich kenne
natürlich viele Musiker und ich weiß, daß das, was
wir mit Marillion haben ziemlich einzigartig ist. Das Feeling
zwischen den Bandmitgliedern ist stimmig und es gibt einen großen
gegenseitigen Respekt. Aber auch das Verhältnis zu den Fans
stimmt. Man merkt das vor allem bei den Shows, aber in der heutigen
Zeit auch besonders über den Kontakt durch das Internet. Das
gibt zum ersten Mal die Möglichkeit in einem sehr großen
Umfang zu erfahren, was die Fans über Marillion denken, was die
Fans untereinander sagen.
Mit Brave und Afraid
Of Sunlight waren zwei der letzten drei Studioalben
Konzeptalben. Aber das scheint erst einmal zu reichen.
Radiation ist kein
Konzeptalbum, es sind einfach neun individuelle Songs, die auch
verschiedene Themen reflektieren. Drei Stücke Now
Shell Never Know; These Chains und
Cathedral Wall haben den selben Hintergrund.
Diese drei Titel beziehen sich auf eine sehr schwierige Phase in
meinem privaten Leben, in meiner persönlichen Beziehungen. Es
waren einige schmerzvolle Jahre und so etwas wirkt sich natürlich
auch auf die Texte aus. These Chains erzählt die
Geschichte eines Mannes, der alles verloren hat, der aber an einem
Morgen, als er allein über die Felder geht, erkennt, daß
viele dieser Ketten, die uns emotional so herunterziehen, lediglich
etwas selbstgemachtes sind, etwas, was nur in unseren eigenen Köpfen
existiert. Cathedral Wall beschreibt die Suche nach
einem Ort, an dem man seinen eigenen Frieden finden kann, wieder
etwas, was es in deinem eigenen Kopf gibt. Man kann unter bestimmten
Gesichtspunkten vielleicht noch einen vierten Song dieser Thematik
zuordnen, - The Answering Machine.
Aber neben persönlicher
Krisenbewältigung widmet man sich auch anderen Themen. Under
The Sun spricht ein Öko-Thema an, wenn auch ziemlich
eigenwillig.
Das Ozonloch sorgt dafür,
daß es in England endlich mal warm im Sommer wird, und daß
die Polkappen schmelzen, ist auch nicht so schlimm, da habe ich es
endlich nicht mehr so weit bis zum Strand.
So kann man es natürlich auch
sehen. Außerdem kriegen Marillion auf Radiation
mit Born To Run auch zum ersten Mal den Blues.
Es ist ein Song über die
Mentalität der Arbeiterklasse in Nordengland. Ich bin in
solchen Verhältnissen aufgewachsen, genau wie Steve Rothery.
Was mich angeht, ich habe mich vollkommen aus diesem Umfeld gelöst,
aber es kann sich natürlich keiner völlig von seinen
Wurzeln lösen. Und genau darum geht es in diesem Lied. Um den
Versuch, dies hinter sich zu lassen, um dann doch festzustellen, daß
es immer in einem steckt.
Aber nicht nur, daß man sich
musikalisch in neuen Gefilden tummelt, man krempelte bei der
Gelegenheit den Marillion-Sound auf das heftigste um.
Ich glaube, das Album ist ein
großes Statement, wenn es darum geht, zu zeigen, welche
Möglichkeiten noch immer in uns stecken, daß wir immer
noch Sounds produzieren, die völlig anders sind, als das, was
wir bisher gemacht haben. Es ist auch ein Beweis unserer völligen
kreativer Freiheit und unseres Selbstbewußtseins. Wir wollten
weg von einigen dieser Sounds, die wir in der Vergangenheit so oft
verwendet hatten. Wir hatten einfach das Gefühl, daß die
Zeit reif war für Veränderungen. Wir wollten nicht mehr
diesen typischen Gitarrensound von Steve, den die Leute schon ewig
kennen. Wir wollten nicht mehr diese String-Synthesizer. Und wir
unternahmen auch recht drastische Änderungen was die Vocals
angeht. Mal klingen sie wie aus dem Telefon, wir haben auch Vocals
mit einem einfachen Walkman aufgenommen. Am deutlichsten werden die
Änderungen allerdings bei Cathedral Wall, wo wir es
ja eigentlich mit zwei Lead Vocals zu tun haben schreienden
und flüsternden. Die schreiende Stimme hat etwas von einem
Geist, oder als ob jemand im Nachbarzimmer gefoltert wird. Das
Flüstern ist dann laut und trocken und im Mix sehr weit vorne.
Fans der berühmten langen
Nummer gehen auch nicht leer aus. A Few Words For The Dead
bringt es immerhin auf etwa zehn Minuten.
Dieser Song besteht aus zwei
völlig entgegengesetzten Teilen. Die ersten fünf, sechs
Minuten sind sehr dunkel, und dann gibt es eine totalen
Stimmungswechsel. Völlige Dunkelheit wird von Licht abgelöst.
Ich denke, es geht darum, daß es zwei Möglichkeiten gibt,
sein Leben zu gestalten. Alleine, sehr vorsichtig, wenn es um
Beziehungen geht oder auch das ganze Gegenteil - du kannst den
Menschen vertrauen, manchmal schon, bevor du sie richtig kennt. Es
ist ein positiver Song, ein Song über Karma.
Ein positiver Song muß ja nun
nicht immer auch ein guter sein. Gerade diesen Zehn-Minuten-Track
empfand ich als reichlich langweilig, wobei ich mit dem Rest des
Albums jedoch bestens zurecht kam. Einige Gespräche mit
Freunden aus der Prog-Szene lieferten jedoch auch andere Meinungen,
die weniger positiv ausfielen. Aber mit den Proggies hat Steve
sowieso nicht allzuviel am Hut.
Das Problem mit der Progressive
Rock Szene und dem Prog Publikum besteht einfach darin, daß
es dort absolut nichts progressives gibt. Sie sind so stark den
Siebzigern verhaftet, das hat mehr etwas von Antiquitätensammlern
als von einer progressiven Bewegung. Was zum Teufel soll progressiv
daran sein, zwanzig Jahre alte Musik zu hören und einfach nur
zu kopieren? Als ich 17 war und Progressive Rock entdeckte, da war
es die aufregendste Sache, die bisher gehört hatte. Ich denke
besonders an das Yes-Album oder an die ersten Genesis-Alben. Hier
waren Musiker, die Dinge machten, die es in der Form noch nicht
gegeben hatte. Hier wurden neue Wege beschritten und man suchte nach
einem Namen und nannte es Progressive.
Unglücklicherweise wurde man dann zu selbstverliebt und zu
bombastisch. Ich hielt das nicht mehr für besonders
einfallsreich und so verlor ich das Interesse an dieser Musik. Was
die Prog-Szene völlig ignoriert ist die Tatsache, daß es
eben auch heute Bands gibt, die wirklich progressive Musik machen.
Sie haben nie ein Sachen gehört wie The Colour Of Spring
von Talk Talk. Sie mißachten komplett die Bands der Neunziger,
die auch ihre eigenen Rollen spielen.
Vor allem aber mißachten
Prog-Fans eines: Alles was irgendwie nach Tekkno, Dance, Trance,
Ambiente usw. riecht. Da sorgte natürlich ein Album wie
Marillion & The Positive Light Tales From The
Engine Room, das Remixes von Songs der Strange
Engine-CD enthielt, für einhellige Empörung. Im
Internet wurde vor dem Kauf dieses Machwerkes gewarnt,
und es gibt sogar Leute, die meinen, Steve Hogarth sei jetzt
völlig durchgeknallt. Dazu habe ich ihn natürlich
nicht gefragt, aber wie es zu diesem Album kam, hat mich schon
interessiert.
Es begann mit Anrufen im Herbst
1996. Einer der beiden Leute, die schließlich dieses
Remix-Team The Positive Light bildeten, nahm mit uns
Kontakt auf. Nun, es dauerte eine Weile, bis wir uns dann trafen,
denn wir waren nicht unbedingt so schrecklich daran interessiert,
etwas in Richtung Trance und Ambiente zu machen. Er sagte uns dann,
er sei ein großer Fan von uns, und daß Market
Square Heroes eine der ersten Platten wäre, die er
überhaupt gekauft hätte. Er wuchs faktisch mit Marillion
Musik auf, natürlich neben der vieler anderer Bands. Heute
macht er eben Remix-Alben, hat schon mit Jean Michel Jarre
gearbeitet und hätte Lust etwas mit uns zu machen. Wir gaben
ihm schließlich die Vocals von Estonia und er
verschwand. Einen Monat später kam er wieder mit dem Remix und
ich liebte es, ich fand es sehr gefühlvoll, und es bewegte mich
mehr als unsere Version. Ich war fast zu Tränen gerührt.
Im Jahre 1997 ist dann so das Remix-Album entstanden.
Ich bin mir sicher, Tränen
dürften auch einigen Fans in den Augen gestanden haben.
Abschließend noch die Frage, wie denn bei Marillion so die
Songs entstehen.
Einige der Texte sind immer schon
da. Von mir, oder von John Helmer, der ja neben mir einen Teil der
Lyrics beisteuert. Wir leben ziemlich weit voneinander entfernt, und
er schickt sein Material per Fax. Und was das Songs schreiben
betrifft, zunächst einmal jammen wir einfach. Das kann manchmal
Wochen dauern, und es wird wirklich alles aufgenommen. Nach ein paar
Wochen hören wir uns das Material dann an und nehmen die Stücke
heraus, von denen wir glauben, sie hätten das Zeug zu einem
guten Song. Ich singe dann irgend etwas dazu, wir schauen, ob es
funktioniert, und es kann schon mal passieren, daß ich den
gleichen Text zu vier oder fünf Songs singe. Manchmal kommen
wir aber auch in die Situation, daß wir so zu zwei guten
Titeln kommen, die den gleichen Text haben. Dann muß ich mich
unter Umständen hinsetzen und einen neuen Text schreiben. So
war es zum Beispiel mit Afraid Of Sunlight und Afraid
Of Sunrise.
Gehen wir mal davon aus, daß
uns auf diese Weise auch zukünftig noch diverse gute Alben
bevorstehen.