Eine Gespräch mit
Düster-Rock Ikone Tilo Wolff hatte ich schon lange auf meiner
Offenen Punkte Liste. Die Veröffentlichung des
ersten Live-Albums Lacrimosa's bot eine willkommene Gelegenheit,
Nägel mit Köpfen zu machen.
Verglichen mit anderen Bands
haben sich Lacrimosa mit einem Live-Album erstaunlich viel Zeit
gelassen. Doch mit meinem Warum erst jetzt? bin ich wohl
mehr die Ausnahme als die Regel.
Zunächst überrascht es
mich, daß du das so siehst. Bei vielen war die erste Frage,
warum muß es denn ausgerechnet jetzt ein Live-Album sein? Ich
denke, gerade bei uns hätte man durchaus früher ein
Live-Album machen können, einfach weil wir live völlig
anders an die Songs herangehen als im Studio. Es gibt eigentlich
zwei Gründe, warum wir trotzdem solange gewartet haben.
Zunächst einmal bin ich kein Freund von Live-Alben. Auf den
meisten dieser Alben kriegt man auch nichts anderes zu hören
als das, was man schon auf den Studio-Alben gehört hat.
Ansonsten hatte ich bisher halt noch nicht das Gefühl, das
alles - Band und Publikum - so perfekt wären, daß es ein
Live-Album wert gewesen wäre. Da Lacrimosa die Songs live aber
völlig anders präsentiert, ist das die einzige
Rechtfertigung für mich, ein Live-Album zu machen. Diesmal hat
es gestimmt, das Publikum war perfekt, die Musiker, mit denen wir
gemeinsam auf der Bühne standen, waren genial. Man konnte
spontan arbeiten. Wenn das Publikum reagierte, konnte man einen Song
länger oder kürzer machen. All diese Dinge finde ich sehr
wichtig.
Die Titel des Live-Albums
könnten auch die eines Best Of - Albums sein. Dennoch dürfte
die Auswahl nicht gerade leicht gefallen sein. Aber wo bei anderen
Bands in der Regel kommerzielle Aspekte diese Selektion bestimmen,
gehen Lacrimosa anders vor.
Die Songs auf der CD richten sich
natürlich nach denen, die wir auf der Tour gespielt haben, und
das wiederum sind die Stücke, die mir momentan am nächsten
sind, die mich am meisten bewegen. Heute würde ich noch Stücke
wie Flamme im Wind hinzunehmen und Das Schweigen,
im nächsten Jahr wird es vermutlich wieder ganz anders
aussehen. Ich würde niemals auf die Bühne gehen und einen
Song spielen, den ich aus meiner Verfassung heraus nicht
nachempfinden kann. Es geht allerdings nicht, daß ich sagen
kann, heute spielen wir den Song und morgen den. Lacrimosa ist ja
keine Band im eigentlichen Sinne, wir proben also nicht jede Woche
und haben daher auch nicht das gesamte Repertoire drauf. Wenn
Konzerte anstehen, dann trifft sich die Band vorher in Hamburg und
es wird eine bestimmte Anzahl von Stücken geprobt. Alles was
darüber hinaus geht, können wir dann live auch nicht
spielen, weil das auch Songs sind, die die Musiker teilweise gar
nicht kennen.
Einen der Songs kannten auch
nicht die Schreiberlinge, da man ihnen Dunkelheit auf
der Promo einfach vorenthielt.
Der Song ist nicht auf der Promo,
weil wir damit keine Werbung machen wollten. Es sollte ein Geschenk
an die Fans sein. Es ist ein Stück, das ich kurz vor der Tour
geschrieben habe und das wir ein einziges Mal bei der Tour live
aufgeführt haben. Inzwischen haben wir es auch in Mexiko
gespielt und werden es auch im Sommer auf den diversen Festivals
spielen. Es wird aber auf keinem Album mehr erscheinen. Es ist ein
Stück, das durch den Moment lebt, und ein solcher Song wäre,
wenn ich ihn dann im Studio bearbeiten würde, sofort tot. Ich
kann im Studio nur Titel aufnehmen, die eine längere Dauer
solcher Gefühlsmomente abdecken. Darkness ist ein
ganz spezieller Song, der ein Gefühl oder eine Situation
anspricht, die ich nur permanent nachvollziehen kann und möchte,
darum könnte ich da gar nicht im Studio dran arbeiten. Wäre
dieser Song nicht auf das Live-Album gekommen, es wäre einer
der Songs, die nie veröffentlicht werden.
Bei den Tourdaten der Band viel
mir Stavenhagen auf. Eine kleine Stadt in Mecklenburg, etwa 20
Kilometer von einem Kaff namens Gützkow entfernt, in dem ein
gewisser Renald Mienert seine Kindheit verbracht hat. Wie schaut es
denn nun aus mit den Fans im Osten?
Die Fans im Osten sind nach wie
vor - es hat zwar auch etwas abgenommen - enthusiastischer, sie sind
dankbarer. Sie verstehen besser, dir die Musik durch ihre Präsenz
während des Konzertes zurückgeben zu können. Und ich
habe auch das Gefühl, sie sind offener und aufnahmefähiger
als der Westen. Es ist schade, daß der Westen da vom Osten
nichts gelernt hat.
Was der Osten vom Westen gelernt
hat, ist, daß es wesentlich wichtiger ist, so zu tun, als ob
man mächtig was auf der Kirsche hat, als es tatsächlich
draufzuhaben. Klamotten spielen da eine nicht unerhebliche Rolle.
Der Progger fällt da allerdings etwas aus dem Rahmen, ihm ist
sein Outfit normalerweise scheißegal. Tilo Wolff natürlich
nicht.
Für mich ist es eine
Ausdrucksform genau wie die Musik oder das Schreiben. Ich kehre mit
dem, wie ich mich kleide, mein Innerstes nach außen. Das wird
speziell in der Gothic-Szene oft mißverstanden, besonders bei
jungen Gothics. Viele betrachten das Outfit als Kostümierung,
die Schminke als Maske, und ich denke, es ist genau das Gegenteil.
Das heißt, dies ist nicht nur meine Meinung, das entspricht
auch genau dem ursprünglichen Gothic-Gedanken. Man präsentiert
sich so, wie man sich fühlt und versteht die Kleidung nicht als
ein Verstecken von erogenen Zonen. Kleidung hat heute - wie schon
immer - etwas von Uniformierung und da auszubrechen und zu sagen
ich sehe so aus wie ich bin und nicht ich bin
nicht so wie ich aussehe, das finde ich, ist ein sehr schöner
Gedanke. Ich bin schon - die meisten würden sagen extravagant -
rumgelaufen, bevor ich in der Gothic-Szene war. Wenn ich mich halt
so fühle, binde ich meine Haare auch schon mal zu einem Zopf
zusammen, wenn ich keinen Bock habe, daß sie mir in der Fresse
rumhängen. Ich brauche aber eben auch diese
Ausdrucksmöglichkeit Ich wüßte nicht, was ich machen
würde, wenn morgen schwarze Klamotten und weiße Hemden
mit Rüschchen verboten würden.
Damit hätte ich freilich
keine Probleme. Die wiederum haben allerdings einige Gothic Fans mit
Lacrimosa. Als ich einmal mit meinen Insiderkenntnissen prahlen
wollte, und mein Review zu Inferno erwähnte, bekam
ich ziemlich überrascht ein Wir hassen Lacrimosa zu
hören!
Allein ein Satz wie Wir
hassen Lacrimosa! zeigt doch schon, wie ernst man so was
nehmen kann. Wie soll man Kunst hassen können? Ein Künstler
geht ja nicht hin und vergewaltigt jemand oder tut irgenwem was
zuleide. Wenn ich etwas nicht mag, dann tu ich es mir eben nicht an.
Ich verstehe nicht, wie Künstler Morddrohungen bekommen können
oder wie im Fall von John Lennon sogar erschossen werden können.
Wenn jemand kommt und sagt , ich finds nicht gut wegen dem und
dem und dem - kein Problem. Wenn einer kommt und klopft mir auf die
Schulter und sagt: He, Tilo, große Klasse und sagt dann
hintenrum alles Scheiße, dann kann ich damit nicht viel
anfangen. Da ist keine Information, die Aussage ist nicht direkt an
mich gerichtet, was soll ich damit machen? Ich bin zwar offen für
konstruktive Kritik, lasse mich in meiner Arbeit aber nicht sehr
beeinflussen. Mein Ziel ist es ja nicht, gute Musik zu machen, mein
Ziel ist es, mich auszudrücken. Bei Lacrimosa gibt es kein Gut
oder Schlecht, es gibt nur, hab ich den Punkt getroffen, hab ich
genau das ausgedrückt, was ich zum Ausdruck bringen wollte. Was
eigentlich schon wieder soweit führt, daß man eigentlich
gar nicht sagen kann, das find ich gut. Denn wer kennt mich schon,
wer weiß, was ich eigentlich ausdrücken wollte? Ich werde
niemals eine Meßlatte wie Gut oder Schlecht bei Lacrimosa
ansetzen.
Ebenfalls Kritik gab es für
den Lacrimosa - Förderpreis. Man würde sich als Wohltäter
der Szene aufspielen, dabei signten die Gwinner dann beim
Lacrimosa-eigenen Label Hall Of Sermon und so flösse das Geld
schließlich in die eigenen Kassen zurück.
Es ist schon kraß, was die
Leute sagen. Das überrascht mich immer wieder. Wir haben 1995
einen Preis vom Zillo-Magazin bekommen als Beste alternative
Musikgruppe. Der war mit zehntausend Mark dotiert und anstatt
das Geld - was ja unser gutes Recht gewesen wäre - in die
eigene Tasche zu stecken, haben wir gesagt, O.K. wir geben das Geld
Bands, die es wirklich dringend nötig haben. Wir haben gesagt,
Bands ohne Deal sollen uns ihr Tape schicken und die drei, die uns
am besten gefallen, die bekommen jeweils ein drittel von der Summe.
Das war das, was wir überall veröffentlicht haben. Dieses
Geld sollte verwendet werden, daß die Bands wieder ins Studio
können, daß sie professionelle Demos machen können,
live auftreten und dadurch denn schließlich an einen
Plattenvertrag zu kommen. Das eingeschickte Material war aber
schließlich so gut, daß wir zwei der Bands auf unserem
eigenen Label unter Vertrag genommen haben, die dritte nicht, die
ist allerdings mittlerweile auch bei einem anderen Label gelandet.
Wir wären ja dumm, wenn wir das nicht gemacht hätten. Die
Bands suchen ein Label - wir haben ein Label. Aber das bedeutet doch
nicht, daß das Geld in unsere eigene Taschen geflossen ist.
Auch was diese beiden Bands angeht. Wer so etwas sagt, der sollte
sich mal genau anschauen, wie es in unserem Geschäft zugeht.
Wir können ja den Bands nicht zuerst Geld geben und ihnen das
dann wieder abnehmen. Die Bands zahlen ja dem Label nichts, im
Gegenteil, das Label finanziert den Bands schließlich noch die
Produktion von Alben. Wer also solche Behauptungen macht, der kann
nicht weiter als um die nächste Ecke denken.
Frag einen Künstler mit
Deal ob ihm sein Label künstlerische Vorschriften macht, und er
wird dir sagen - natürlich nicht. Frag die Leute, die die Dinge
lieber in die eigenen Hände genommen haben, und du bekommst
folgendes zu hören:
Ich habe mein erstes Demo
rumgeschickt und Verträge zurück bekommen, bei denen ich
sehr schnell gemerkt habe, daß sie mich in meiner
künstlerischen Freiheit sehr einschränken würden. Und
ich könnte nie mit einem Label arbeiten, das sagt, das Album
können wir so und so nicht veröffentlichen. Ich möchte
ausdrücken, was ich fühle und da kann mir keiner
reinreden. Und diese künstlerische Freiheit, die ich mir damals
mit Lacrimosa gegeben habe, bekommen natürlich auch alle
anderen Hall Of Sermon - Bands.
Die meisten der Lacrimosa-Texte
sind deutsch. Wie gesagt, die meisten. Können die Ausnahmen da
nicht das Gesamtbild einer CD zerstören?
Ich wüßte jetzt nicht
warum. Ich weiß auch nicht, ob es da so etwas wie ein
Gesamtbild gibt.
Lacrimosa lebt und hat sich immer
entwickelt. Immer kommen neue Dinge hinzu. Es ist wie bei einem
Kind, das immer älter wird, und wenn das Kind ständig mit
den gleichen Klamotten rumrennen würde - spätesten mit
einem Meter achtzig sehe es etwas peinlich aus. Es gibt für die
englischen Texte auch einen ganz einfachen Grund - Anne Nurmi kommt
aus Finnland und sprach zumindest damals einiges besser englisch als
deutsch. Mittlerweile spricht sie es fast gleich gut. Aber sie hat
ihre Texte von je her in englisch geschrieben - es war fast eine
zweite Muttersprache für sie. Als sie dann zu Lacrimosa kam,
wäre ich der letzte gewesen, der sie gezwungen hätte, ihre
Texte in deutsch zu schreiben. Genauso gut hätte sie von mir
verlangen können, meine Lyrics auf finnisch abzuliefern. Es
gibt aber auch einfach Texte - nimm Copycat - die kommen
in deutsch nicht rüber. Mit der deutschen Sprache kann man
teilweise nicht so hart und direkt arbeiten wie im englischen.
Lacrimosa - das sind Tilo Wolff
und Anne Nurmi, und zwar im Verhältnis von Neunzig zu Hundert.
(Ich hoffe, Anne nimmt mir diese Äußerung nicht übel,
was das Outfit angeht, sieht die Sache natürlich genau anders
herum aus!) Aber natürlich gibt es noch die diversen
Gastmusiker, mit denen teilweise schon seit längerem
zusammenarbeitet. Da kann man doch eigentlich gleich eine richtige
Band werden. Oder?
Also eine Band wird Lacrimosa
wahrscheinlich nie werden. Aber mit den Musikern, mit denen wir
jetzt arbeiten, kennen wir schon einige Zeit und ich bin absolut
glücklich mit ihnen. Wenn Lacrimosas jemals etwas
Band-ähnliches war, dann sind wir es jetzt. Untereinander
nennen wir es auch die Band, aber die Musiker werden niemals Einfluß
auf die Kompositionen haben.
Dann eben nicht. Und noch bei
einem anderen Thema wird wohl alles beim Alten bleiben - bei den
genialen Schwarz-Weiß-Covern.
Das war auch rein gefühlsmäßig,
genau wie dann die konkrete Umsetzung der einzelnen Cover. Genau so
stelle ich mir Lacrimosa visuell vor. Diese schwarz-weiß
kontrastreichen Zeichnungen mußten es einfach sein. Ich habe
kurzzeitig mal darüber nachgedacht, das Konzept zu ändern,
bin dann aber zum Glück wieder davon abgekommen. Genau wie
Lacrimosa auf eine ganz besondere Art klingt, sieht Lacrimosa auch
auf eine ganz besondere Art aus.
Kommen wir mal auf das Thema
Lacrimosa und Prog zu sprechen. Es gibt ja wohl keine Band aus dem
Bereich des Düsterrocks, die bei Proggern ähnlich beliebt
ist. Was natürlich nicht von ungefähr kommt - symphonische
Elemente, eine Vorliebe für Longtrax - alles eigentlich
typische Merkmale des progressive Rock.
Meine absolute Lieblingsband ist
Pink Floyd. Ich liebe Marillion, ich liebe die alten Genesis, diese
Scheiben laufen bei mir rauf und runter. Ich bin extrem von dieser
Musik beeinflußt, obwohl die meisten dieser Sachen entstanden,
bevor ich auf der Welt war. Es ist eine Musik, die mir sehr am
Herzen liegt. Und ich glaube, daß die Leute, die solche Musik
hören auch ein größeres Musikverständnis
auszeichnet, als jemand der halt nur die Band aus seinem Umfeld
kennt. Viele Sachen, die ich aus dem progressive Rock kenne, sind
sehr anspruchsvoll, oftmals sicher schon so, daß viele Musiker
der Gegenwart so etwas gar nicht mehr spielen könnten. Und da
freue ich mich natürlich besonders, wenn ein Prog-Fan kommt und
sagt, er findet Lacrimosa toll. Weil ich weiß, die Leute haben
schon so viel gutes Zeug gehört, und wenn solche Leute so etwas
sagen, dann wissen sie meistens, wovon sie sprechen.