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Jethro Tull: Von wegen "To Old To Rock'n'Roll"

DURP - eZine from the progressive ocean

Interview

Es gibt nicht viele Bands, die dreißig Jahre alt werden, immer noch regelmäßig Alben auf den Markt bringen, und das auch noch völlig abseits jeglicher Trends - und die dennoch musikalische Qualität auf der einen und kommerzielle Erfolge auf der anderen Seite verbuchen können. Jethro Tull gehören definitiv zu dieser Kategorie. Melodic Journey unterhielt sich mit Ian Anderson.

Euer neues Album heißt „J-Tull Dot Com". Jethro Tull entdeckt das Internet?

Nun, ich glaube, es war eher umgekehrt - das Internet hat Jethro Tull entdeckt. Schon seit sechs oder sieben Jahren sind wir im Netz präsent. Es gibt wohl mehr als hundert inoffizielle Jethro Tull - Seiten. Schließen traten immer mehr Leute an uns heran mit dem Wunsch, doch endlich eine offizielle Bandseite zu gestalten, aber wir warteten noch ab, weil wir sicherstellen wollten, daß die Page auch wirklich genug Potential enthielt, genügend Informationen, um diese einem breiten Publikum zugänglich zu machen. In letzten Jahr war es dann so weit, und ich glaube, es ist eine sehr persönliche Seite geworden. Ich schreibe das Textmaterial und unser Keyboarder ist der Webmaster, er hat extra gelernt, HTML-Seiten zu erstellen. Aber es ist tatsächlich so, das World Wide Web hat uns entdeckt, wir haben nur reagiert. Aber ich halte es für sehr wichtig, diese Möglichkeiten zu nutzen.

Als ich eurer Seite einen Besuch abgestattet habe, fiel mir auf, daß du deine Mail-Adresse angegeben hast - wirklich deine eigene. Bei Künstlern deiner Popularität ist das eher selten. Außerdem muß du doch so eine Unmenge an Mails kriegen, daß du sie unmöglich beantworten kannst - wahrscheinlich nicht mal alle lesen?

Vor einigen Monaten habe ich auf der Webseite geschrieben, bitte schickt mir keine Mails, denn ich bin auf Tour und es ist unmöglich, zu antworten. Wahrscheinlich sind mittlerweile aber trotzdem Hunderte von Mails bei mir angekommen, ohne, daß ich sie lesen konnte. Gerade war ich eine Woche in den Staaten, jetzt promote ich das aktuelle Album in Europa, ich habe wirklich im Augenblick so gut wie keine Zeit. Aber wenn es mal etwas ruhiger ist, dann beantworte ich schon zumindest einige der Mail. Es ist auch sehr interessant für mich, diese Mails zu lesen, man lernt doch einiges über die Fans da draußen.

Es ist nicht so leicht nachzuvollziehen, was gegenwärtig eigentlich in Sachen Plattenfirma so bei euch passiert. Kannst du mal etwas Licht ins Dunkel bringen?

Vor dreißig Jahren haben wir bei Chrysalis gesignt, und vor etwa zehn Jahren, wurde Chrysalis von EMI gekauft, immerhin einem der fünf größten Majorcompanies. Vor fünf Jahren haben sie Chrysalis dann dicht gemacht, aber die Rechte an den Namen und den Veröffentlichungen behalten. So wurden wir plötzlich zu einer EMI - Band. Verglichen mit den anderen Majors läuft es für EMI nicht gerade gut. Es ist ein Pop-Label, und als solches natürlich permanent auf der Suche nach Chart-Bands. Natürlich sind wir da nicht die richtige Band - so wünschten wir ihnen alles gute und hoffen, daß sie uns auch weiterhin unterstützen. Sie vermarkten ja immerhin noch die Alben von dreißig Jahre Jethro Tull, die sie ja damals von Chrysalis gekauft hatten. Im Augenblick haben wir sozusagen drei Plattenfirmen, EMI für den Back-Katalog, Papillon Records für Europa und Fuel 2000 für Amerika, Vertrieb und Marketing machen hier Universal Records, die größte Plattenfirma der Welt. Es ist schon ziemlich komisch gleichzeitig mit drei Labels zu arbeiten Täglich kriegst du von drei Seiten Anfragen und Forderungen, damit bin ich ganz gut beschäftigt.

Wenn wir schon bei Plattenfirmen sind. Üblicherweise heißt es ja wohl, bei einem Deal mit einem Major geht Kommerz vor Qualität, was oft zu dazu führt, daß die Plattenfirmen den Künstlern vorschreiben, was sie abzuliefern haben. Habt ihr auch solche Erfahrungen gemacht?

Nein, aber das liegt daran, daß wir aus einer Zeit kamen, als die Plattenfirmen den Bands noch die Chance gaben, Alben ohne kommerziellen Druck zu machen. Eigentlich konnten wir immer die Platten machen, die wir wollten. Kleine Ausnahmen gab es schon. „A" aus dem Jahre 1980 zum Beispiel sollte ursprünglich ein Soloalbum von mir werden, aber die Leute von Chrysalis haben mich dann doch überredet, und so wurde es ein Tull-Album, was wahrscheinlich nicht gerade die glücklichste Entscheidung war. Und dann gab es mal eine Compilation, die Chrysalis nur gemacht haben, um eine Vertriebsdeal mit Warner Bros zu ergattern, auch das war nicht gerade eine sinnvolle Geschichte. Zwei Mal in dreißig Jahren, das ist schon noch OK.

Normalerweise läuft es im Rock und Pop ja so, daß einige Bands einen bestimmten Stil lostreten, und dann viele andere folgen. Das ist ja auch ein völlig normale Sache. Ihr habt auch einen ganz speziellen Sound kreiert, aber wo sind die Bands, die euch folgten?

Man sollte Tull nicht mit einer normalen Pop oder Rockband vergleichen. Wir sind eine andere Spezies, abseits vom Mainstream. Ich erinnere mich an einen Spruch aus der Schule - Entschuldige dich nicht dafür, daß du ein Gehirn hast. Meine Musik und meine Texte sind häufig außerhalb der kommerziellen Konventionen. Ich liebe es, ein Musiker zu sein, aber ich betrachte mich Lieber nur als ein Künstler im weitesten Sinne. Wie viele andere Rockmusiker der Sechziger und Siebziger begann auch ich ja zunächst als Kunststudent, studierte Malerei und wechselte erst später. Mein Background ist Kunst - nicht nur Musik. Die Art und Weise, wie ich komponiere, ist in erster Linie ein Ergebnis dieser frühen Jahre. Es gibt eine Menge Bands, die Tull-Songs gecovert haben, sogar Iron Maiden. Die Liste wäre wirklich sehr lang. Vor einigen Jahren gab es sogar ein Album von Placido Domingo, der eins meiner Lieder sang. Ich schreibe ja nicht gerade Opern, aber sie wollten ein Weihnachtsalbum machen und suchten Songs, und dann nahmen sie einem von mir. Aber solltest du einer Band wie Pear Jam die Frage nach ihren Haupteinflüssen stellen, sie würden Jethro Tull nennen. Natürlich nicht von jedem Album, aber schon von „Stand Up" oder „Aqualung".

Ihr habt jetzt vierundzwanzig Alben veröffentlicht, gibt es da ein besonders wichtiges?

Ich betrachte „Stand Up" gerne als das erste „wahre" Jethro Tull - Album. Davor gab es noch „This Was", aber das hatte mit seinen starken Blueseinflüssen noch nicht den typischen Tull-Sound. Auf „Stand Up" gab es dann diese Einflüsse von Musik aus der ganzen Welt. Und mein Job ist es, diese so zu verbinden und zu verschmelzen, daß dabei ein guter Song entsteht. Ich will keinen Blues singen oder keine Tango und auch keine indianische Folklore - aber ich lasse mich von diesen Gefühlen inspirieren - das tat auch schon Beethoven. Die für mich größten Künstler haben so gearbeitet, egal ob Musiker, Maler oder Schriftsteller.

Wenn auch der Titel des neuen Album vermuten lassen könnte, auch soundmäßig würdet ihr euch neueren Einflüssen zuwenden - eure Musik ist so zeitlos wie immer.

Wenn du es sagst. Mir gefällt der Gedanke, daß einige der Jethro Tull Songs auch heute noch von Bedeutung sind. Das sind nicht alle, denn es sind nicht alle gleich gut. Nicht alles was man macht ist von gleich hohem Niveau. Manchmal höre ich mir alte Kompositionen von mir an und sage, daß war nun nicht gerade eine Meisterleistung.

Auf „J-Tull Dot Com" gibt es einen Hidden Track, der aus deinem demnächst erscheinenden Soloalbum „The Secret Language Of Birds" enthält. Für mich klingt der Song wie ein typischer Tull-Song. Wozu denn überhaupt ein Soloalbum?

Das Soloalbum enthält fast ausschließlich akustische Songs, mit zwei Ausnahmen. Einmal gibt es ein wenig Orgel, und ein zweiter Song enthält ganz dezent elektrische Gitarren. Ich spiele auch die meisten Instrumente, und das ist wohl der Unterschied zu einem Tull-Album. Wenn ich Gitarre spiele, dann klingt das anders, als wenn Martin Barre sie spielen würde, und das ist bei allen Instrumenten so. Die Lieder reflektieren meine persönlichen musikalischen Fähigkeiten und Interessen. Es klingt anders, weil die Bandmitglieder einen eigenen Musizierstil haben. Wenn wir live diese Stücke spielen, müssen sie diese erlernen, was nicht gerade leicht für sie ist, weil sie meinen Stil erlernen müssen. Ein Jethro Tull - Album ist immer das Album einer Band, ich schreibe den Leuten nicht vor, wie sie zu spielen haben - na gut, jedenfalls nicht sehr oft. Ich gebe praktisch den Song in seiner einfachsten Form vor, und die Band als Ganzes kreiert dann die Arrangements. Die Texte schreibe ausschließlich ich, denn ich muß sie ja schließlich auch singen. Die anderen können nicht singe, ich auch nicht, aber von uns fünf schlechten Sängern, bin ich immer noch der beste. Sie sind schrecklich, ich bin einen Tick besser.

Eure Alben werden immer noch von Kritikern gelobt, ihr habt eine weltweite treue Fangemeinde. Aber einen richtigen Hit hattet ihr schon ewig nicht mehr.

1999 wäre selbst ein Songs wie „Aqualung" kein Hit geworden. Die Welt hat sich verändert, Radio und TV spielen völlig andere Musik, sehr simpel strukturiert, sehr eingängig. Ich bin mir nicht mal sicher: Hat das nächste Bruce Springsteen Album einen Hit? Oder das von Pink Floyd? David Bowie wird für eine Hit beten, aber er wird wahrscheinlich keinen haben. Elton John und Rod Stewart haben es wirklich massiv versucht, heraus kam ein kleiner Hit. Ich habe natürlich auch keine Lust auf Biegen und Brechen einen Hit zu landen, weil es mich vermutlich nicht gerade zufrieden stellen würde. Aber selbst wenn ich es täte, und wir würden so einen Song tatsächlich aufnehmen, es würde trotzdem kein Hit werden, weil die Leute es von Jethro Tull überhaupt nicht erwarten. Wir hätten nicht mal Airplay. Es macht mich nicht zornig oder traurig, es ist einfach ein Zeichen, wie sich die Welt der Rock - und Popmusik geändert hat. Auch das ist ein Grund dafür, daß wir verstärkt auf das Internet setzen. Es ist vor allem für alle die Bands ein wichtiges Medium, die nicht Teil des großen Mainstreams sind.

Hattest du eigentlich irgendwann mal die Nase voll, Musik zu machen?

Nach der Thick As A Brick Tour in den USA 1972 hatte ich wirklich die Nase voll. Ich liebe akustische Musik für mein Leben gern. Gut, es ist auch mein Job, aber es kann ein sehr frustrierender Job sein, wenn das Publikum nur grölt und schreit. Und das amerikanische Publikum damals war wirklich eine Katastrophe, sie dachten wohl, wir wären ein Footballgang.

Eine letzte Frage. Im Internet hast du ein fiktives Interview veröffentlicht, mit den Fragen, die dir wieder und wieder gestellt werden. Wie hättest du reagiert, wenn ich dich all das gefragt hätte - wo kommt der Bandname her, warum die vielen Besetzungswechsel, lebst du in der Vergangenheit und und und..

Komisch, die gleiche Frage hat mir auch schon dein Vorgänger gestellt, Was hätte ich wohl gemacht? Ich hätte geantwortet....


© 11/1999 Renald Mienert
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